Ein gelbes Band
Eines Tages trat eine Gruppe Jugendlicher eine längere Reise an. Mit dem Bus wollten sie raus aus der stickigen Stadt und durch das ganze Land ans Meer fahren. Als sie in den Bus einstiegen, hatten sie Proviant bei sich; sie träumten von goldenen Stränden und Meeresbuchten, als die graue kalte Stadt hinter ihnen verschwand.
Als der Bus durch einen kleinen Ort fuhr, bemerkten sie einen Mann. Er saß vor ihnen, gekleidet in einen schlecht sitzenden, altmodischen Anzug, den er wohl seit längerem nicht mehr gewechselt hatte. Seine düstere Miene machte es schwer, sein Alter zu schätzen. Er kaute auf seiner Unterlippe und war schweigend völlig in sich selbst versunken.
Tief in der Nacht, irgendwo an der Autobahn, hielt der Bus an einem Schnellrestaurant und alle stiegen aus – bis auf den Mann. Er saß wie verwurzelt in seinem Sitz und die jungen Leute begannen, sich über ihn zu wundern. Sie versuchten sich sein Leben vorzustellen; vielleicht war er ein Schiffskapitän oder er war vor seiner Frau davongelaufen oder ein Auswanderer, der heimkehrte.
Als sie zum Bus zurückkehrten, setzte sich eines der Mädchen neben ihn und stellte sich vor.
„Wir fahren ans Meer“, sagte sie freundlich. „Ich habe gehört, es soll dort wunderschön sein.“ „Das ist es“, sagte der Mann leise, so als ob er sich an etwas erinnerte, das er zu vergessen versucht
hatte.
„Möchten Sie etwas zu trinken?“, fragte das Mädchen. Er lächelte und nahm einen Schluck. Er dankte ihr und fiel wieder in Schweigen. Nach einer Weile kehrte das Mädchen zu seinen Freunden zurück und der Mann fiel in Schlaf.
Am Morgen machten sie bei einem anderen Schnellrestaurant eine Pause und dieses Mal betrat es auch der Mann. Das Mädchen hatte darauf bestanden, dass er sie begleiten sollte. Er schien sehr schüchtern zu sein und bestellte einen schwarzen Kaffee und rauchte nervös eine Zigarette, während die Jugendlichen aufgeregt vom Schlafen am Strand quasselten. Nachdem sie zum Bus zurückgekehrt waren, setzte sich das Mädchen wieder neben den Mann und nach einer Weile erzählte er – langsam und ängstlich – seine Geschichte.
Er war während der vergangenen vier Jahre in der großen Stadt im Gefängnis gesessen und nun fuhr er nach Hause.
„Sind Sie verheiratet?“
„Ich weiß nicht!“
„Sie wissen es nicht?“, fragte sie erstaunt.
„Nun, während ich im Gefängnis saß, schrieb i michier ferse, sollte, we en sie es nicht mehass ich für eine lange Zeit weg sein würde und dass sie mich vergessen sollte, wenn sie es nicht mehr ertragen könnte, wenn die Kinder immer weiter Fragen stellen warten, wesie ist ine wunder würde. Ich könnte es verstehen. Nimm dir einen neuen Mann!, sagte ich. – Sie ist eine wundervolle Frau, etwas Besonderes. Sie sollte mich vergessen. Ich sagte ihr, sie müsse mir nicht schreiben oder sonst irgendetwas tun. Und das tat sie auch nicht. Nicht während dreieinhalb Jahren.“ „Und jetzt fahren Sie nach Hause, ohne irgendetwas zu wissen?
„Ja“, sagte er schüchtern. „Nun, letzte Woche, als ich sicher war, dass ich entlassen würde, schrieb ich ihr wieder. Wir lebten in einem kleinen Ort, einige Kilometer vor dem Meer, und dort steht eine mächtige Eiche gleich am Ortseingang. Ich schrieb ihr, dass sie ein gelbes Band an den Baum binden solle, wenn sie möchte, dass ich zu ihr zurückkomme. Dann werde ich aussteigen und nach Hause gehen. Wenn sie mich nicht mehr sehen möchte, solle sie es einfach vergessen. Kein Band und ich werde weiterfahren.“
„Wow“, sagte das Mädchen. „Wow.“
Sie erzählte die Geschichte den anderen und bald warteten alle, die im Bus waren, gespannt auf die Ankunft in dem Heimatort des Mannes, während sie sich die Fotos von seiner Frau und seinen Kindern ansahen, die er herumzeigte. Die Ehefrau erschien auf eine schlichte Weise beeindruckend schön und die Kinder noch sehr klein auf den geknickten, oft angesehen, vergilbten Fotos.
Nun waren sie 20 km vor der Ortschaft und die jungen Leute verteilten sich auf den Fensterplätzen der rechten Seite und warteten darauf, einen ersten Blick auf die Eiche erhaschen zu können. Die Stimmung im Bus war düster und bedrückt, voller Stille der Abwesenheit und der verlorenen Jahre.
Der Mann schaute nicht mehr auf, seine Miene war versteinert, die harten Züge eines Ex-Sträflings, als würde er sich vor einer neuen Enttäuschung schützen wollen.
Dann waren es noch 10 km, dann 5. Dann, plötzlich, sprangen alle jungen Leute von ihren Sitzen auf, schreiend und rufend und weinend, kleine Tänze vollführend. Alle – außer dem Mann.
Dieser saß verblüfft da und starrte auf die Eiche. Sie war über und über mit gelben Bändern versehen
20 von ihnen – 30 – vielleicht Hunderte. Der Baum stand im lauen Windzug da wie ein riesiges Denkmal des Willkommens. Als die Jugendlichen erneut schrieen, schoss der ehemalige Sträfling von seinem Sitz hoch und machte sich auf den Weg zum vorderen Busausgang, um nach Hause zu gehen.
Liebe Schüler und Schülerinnen, liebe Eltern und Erziehungsberechtigte und liebes Kollegium,
die Fachschaft Religion wünscht euch und Ihnen ein schönes, gesundes und erfolgreiches Schuljahr 2024/2025